Warum Authentizität in der Arbeit heute (über)lebenswichtig ist – besonders für neurodivergente Menschen
Von der Pflichterfüllung zur Persönlichkeits-Performance
In der Industriegesellschaft war Arbeit vor allem Mittel zum Zweck: „Erfülle deine Rolle, und du verdienst dein Brot.“ Persönliche Identität, emotionale Bedürfnisse oder kreative Impulse hatten wenig Platz in einem System, das auf Effizienz und Hierarchie ausgerichtet war.
Heute – im Zeitalter von Wissensarbeit, Selbstoptimierung und kreativen Branchen – wird von Arbeitnehmer*innen nicht nur Leistung, sondern zunehmend Persönlichkeit gefordert. Die Grenze zwischen Beruf und Identität verschwimmt. Damit gewinnt eine neue Frage an Bedeutung: Wie viel von mir selbst bringe ich wirklich mit zur Arbeit?
Masking – eine stille Anpassungsleistung mit hohem Preis
Neurodivergente Menschen (z. B. mit ADHS, Autismus oder Dyslexie) erleben diese Verschmelzung besonders ambivalent. Viele haben schon früh gelernt, dass ihre Denk- und Verhaltensweisen als „anders“ gelten – und reagieren mit sogenanntem Masking: Sie unterdrücken natürliche Impulse und imitieren neurotypische Verhaltensmuster, um akzeptiert zu werden.
Beispiele für Masking im Alltag:
erzwungener Blickkontakt, obwohl unangenehm
ständiges inneres Übersetzen von Gedanken in „sozial erwünschte“ Sprache
Unterdrückung sensorischer Überforderung oder Bewegungsdrang
minutiöse Vorbereitung auf Meetings, um spontane Kommunikation zu vermeiden
Wichtig: Masking ist nicht immer bewusst. Viele entwickeln diese Strategien früh –
als Überlebensmechanismus in einem System, das Normabweichung pathologisiert.
Psychische Kosten – empirisch belegt
Studien zeigen klar: Je stärker neurodivergente Menschen maskieren müssen, desto höher ist ihr Risiko für psychische Erkrankungen – insbesondere Depression, Angststörungen und suizidale Tendenzen (Miller et al., 2021; Pryke-Hobbes et al., 2023).
Das Problem ist nicht die Neurodivergenz selbst – sondern der soziale Druck zur Anpassung an ein Normideal, das Vielfalt nicht mitdenkt.
Unmasking im Beruf: Risiko oder Ressource?
Im Gespräch mit zehn neurodivergenten Fachkräften aus unterschiedlichsten Branchen (u. a. Tech, Finanzen, Literatur) wird deutlich: je mehr sie sich erlauben, unverstellt zu arbeiten, desto stärker schöpfen sie ihre Potenziale aus.
Das heißt nicht: „Sei immer du selbst“ – sondern: Schaffe Bedingungen, unter denen dein echtes Selbst funktional sein darf.
Typische Strategien:
vom Angestelltenverhältnis zum Freelancing wechseln
bewusst Einzelprojekte statt Teamarbeit wählen
klare, messbare Aufgaben statt vager Kommunikation
eigene Zeit- und Konzentrationsrhythmen respektieren
gezielte Reizregulation vor oder während Meetings
Die strukturelle Frage: Wer kann sich Unmasking leisten?
Auffällig: Neun der zehn interviewten Personen arbeiten inzwischen selbstständig oder in leitender Position. Sie konnten sich Freiräume aktiv gestalten – etwas, das in klassischen Unternehmensstrukturen oft schwer möglich ist.
Das wirft eine unbequeme Frage auf: Ist authentisches Arbeiten derzeit ein Privileg – statt ein Recht?
Und weiter: Wie viele kreative, intelligente Menschen scheitern leise, weil sie ständig „funktionieren“ müssen, statt sinnvoll zu wirken?
Was Unternehmen verstehen müssen
Wenn Unternehmen Neurodivergenz wirklich anerkennen wollen, reicht es nicht, Toleranz zu proklamieren. Sie müssen Strukturen schaffen, die kognitive Vielfalt nicht nur zulassen, sondern produktiv einbinden.
Konkret bedeutet das:
flexible Arbeitszeiten und -orte
Wahlfreiheit bei Kommunikation (z.B.Kamera aus, Chat statt Audio)
individuelle Zielvereinbarungen statt uniforme Leistungskriterien
Raum für Special Interests und Stärkenorientierung
soziale Nachsicht statt Performanzdruck
Schlussfolgerungen
Ein unmaskiertes Gehirn ist kein Defizit – sondern oft ein Quell ungeahnter Innovation.
Authentizität am Arbeitsplatz ist keine Lifestyle-Option, sondern eine Frage der mentalen Gesundheit und beruflichen Lebensfähigkeit – vor allem für neurodivergente Menschen.
Doch sie braucht strukturellen Rückhalt. Nur dann kann aus innerem Überleben ein echtes Wirken werden.