Psychologische Sicherheit: Der unsichtbare Schlüssel für neurodiverse Teams
„Hast du heute im Team gesagt, was du wirklich denkst?
Oder nur das, was sicher ist?“
Diese Frage trifft einen Nerv. Viele Menschen erleben ihre Arbeit nicht als einen Raum des offenen Austauschs, sondern als Ort, an dem sie sich anpassen, zurückhalten oder sogar verstecken müssen – besonders, wenn sie neurodivergent sind.
Was fehlt, ist nicht nur Empathie oder Rücksichtnahme. Es fehlt psychologische Sicherheit – und das hat tiefgreifende Auswirkungen auf Zusammenarbeit, Innovation und Inklusion.
Was ist psychologische Sicherheit?
Der Begriff wurde in den 1990ern von Amy Edmondson (Harvard Business School) geprägt. Gemeint ist ein Klima, in dem Menschen ohne Angst vor negativen Konsequenzen:
Fragen stellen
Fehler eingestehen
Ideen teilen
Kritik äußern
sich zeigen, wie sie sind
Edmondson beschreibt psychologische Sicherheit als einen Teamkontext „geprägt von gegenseitigem Vertrauen und Respekt, in dem Menschen sich wohlfühlen, sie selbst zu sein“ (Edmondson, 1999).
Doch in vielen Organisationen herrscht das Gegenteil: Normdruck, Vorsicht und ein implizites „So machen wir das hier eben“.
Warum ist das besonders relevant für neurodivergente Menschen?
Für Menschen mit ADHS, Autismus, Dyslexie oder sensorischen Sensitivitäten ist die Arbeitswelt häufig nicht gemacht. Erwartet wird neurotypisches Verhalten – von Körpersprache über Kommunikation bis zur Reizverarbeitung.
Die Folge: Viele neurodivergente Mitarbeitende „maskieren“ sich – sie passen sich an, unterdrücken Eigenheiten und verstecken Bedürfnisse. Das kostet nicht nur Energie, sondern untergräbt ihre Innovationskraft und Identität.
„Wenn neurodivergente Mitarbeitende sich nicht zeigen dürfen, bleiben ihre Potenziale für das Team unsichtbar.“(Annabi, 2023, Neurodiversity @ Work Playbook)
Was passiert, wenn psychologische Sicherheit fehlt?
Ideen bleiben unausgesprochen, weil sie als „anders“ gelten
Fehler werden vertuscht, statt geteilt
Feedback wird vermieden oder defensiv verarbeitet
Burnout-Risiko steigt, vor allem bei neurodivergenten Mitarbeitenden
Diversity wird zur Hülle – ohne inklusive Kultur bleibt sie wirkungslos
Wie lässt sich psychologische Sicherheit aufbauen – insbesondere für neurodiverse Teams?
Psychologische Sicherheit entsteht nicht durch gute Absichten, sondern durch konsequentes Handeln – auf struktureller, kommunikativer und persönlicher Ebene.
Strategien aus der Forschung:
1. Führung mit Offenheit und Vorbildfunktion
Verletzlichkeit zeigen, z. B. eigene Fehler eingestehen
Klar kommunizieren, ohne zu dominieren
Unterschiedliche Perspektiven wertschätzen
2. Klarheit & Transparenz schaffenRollen, Erwartungen und Feedbackprozesse transparent machen
Kommunikationsregeln gemeinsam definieren
3. Unterschiede sichtbar machen und normalisieren
Kognitive Vielfalt als Ressource feiern
Neurodivergenz entstigmatisieren
Individuelle Arbeitsbedingungen nicht nur dulden, sondern aktiv als selbstverständlicher Teil der Arbeitskultur verankern
4. Zusammenarbeit vielfältig gestalten
Alternative Kommunikationsformate (z. B. schriftlich statt verbal) anbieten
Rückzugsräume und Reizreduktion ermöglichen
Bewertungskriterien reflektieren: Was heißt „Professionalität“ wirklich?
5. Psychologische Sicherheit systematisch messen
Pulsbefragungen, Feedbackschleifen, vertrauliche Interviews
Daten nutzen, um echte Veränderung anzustoßen
„Psychologische Sicherheit ist kein Feelgood-Konzept. Sie ist eine messbare Voraussetzung für Innovation, Retention und echte Inklusion. “(Delizonna, 2017; McKinsey, 2021)
Fazit: Psychologische Sicherheit ist der Boden, auf dem Vielfalt wirklich wachsen kann
Neurodiversität bringt neue Denkweisen, Lösungen und Perspektiven. Aber sie entfaltet sich nicht durch Labels oder Policies allein – sondern durch gelebte psychologische Sicherheit.
Es geht nicht um Perfektion, sondern um Mut zur Offenheit.
Um das Vertrauen, dass Anderssein nicht als Defizit, sondern als Beitrag gesehen wird.
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Edmondson, A. (1999). Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams. Administrative Science Quarterly.
Edmondson, A. (2023). 4 Steps to Boost Psychological Safety in Your Workplace. Harvard Business Publishing.
Annabi, H. (2023). Neurodiversity @ Work Playbook: Psychological Safety in the Workplace. University of Washington.
Delizonna, L. (2017). High-Performing Teams Need Psychological Safety. Harvard Business Review.
McKinsey & Company (2021). Is It Safe? Psychological Safety and the Future of Work.